EuGH zum Vorsteuerabzug bei Insolvenz des Lieferanten

Der EuGH hat in einem Fall aus Litauen entschieden, dass einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nicht versagt werden kann, wenn dieser wusste (oder wissen hätte müssen), dass der Verkäufer aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten die aus diesem Umsatz resultierende Mehrwertsteuer nicht abführen würde.

Eine litauische Bank gewährte durch Vertrag einem litauischen Unternehmen (im Folgenden Verkäuferin) ein Darlehen für die Durchführung von Aktivitäten im Bereich der Immobilienentwicklung. Zum Zwecke der Besicherung bestellte die Verkäuferin der Bank ein vertragliches Grundpfandrecht an einem Grundstück, auf dem sich ein im Bau befindliches Gebäude befand. Aufgrund einer Forderungsabtretung übernahm HA.EN. gegen Entgelt sämtliche Geldforderungen aus dem Darlehensvertrag, einschließlich des vertraglichen Grundpfandrechts. Bei Vertragsabschluss wurde dabei bestätigt, dass HA.EN. bewusst sei, dass die Verkäuferin insolvent und ein Sanierungsverfahren anhängig sei. Der gescheiterte Versuch einen Teil des Grundstücks bei einer Zwangsversteigerung zu versteigern hatte die Folge, dass HA.EN. das in Rede stehende Grundstück zum ursprünglichen Preis übernehmen konnte und ihr das Eigentum an dem Grundstück übertragen wurde.

Die auf der Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer zog HA.EN. als Vorsteuer in der Mehrwertsteuererklärung ab. Ebenso gab die Verkäuferin die Mehrwertsteuer als Mehrwertsteuerschuld in der Erklärung an, führte diese jedoch nicht an den Fiskus ab. Nachdem die Verkäuferin für insolvent erklärt wurde, beantragte HA.EN. die Erstattung des sich aus dem Vorsteuerabzug ergebenden Betrags der Mehrwertsteuerüberzahlung. Sowohl die Steuerbehörde als auch das Regionalgericht waren der Ansicht, dass HA.EN. unredlich und rechtsmissbräuchlich gehandelt habe, indem sie das Grundstück erworben hat, da sie wusste oder hätte wissen müssen, dass die Verkäuferin die Mehrwertsteuer nicht an den Fiskus zahlen werde.

Das Oberste Verwaltungsgericht in Litauen legte den Fall dem EuGH zur Entscheidung vor.

Der EuGH verweist auf bisherige Rechtsprechung (Stehcemp, C-277/14): Demnach würde dem Steuerpflichtigen eine von ihm nicht zu tragende wirtschaftliche Belastung auferlegt, wenn das Recht auf Vorsteuerabzug davon abhinge, ob der Lieferer der Gegenstände die Mehrwertsteuer zuvor gezahlt habe. Gerade diese Belastung soll durch das Abzugssystem nämlich vermieden werden. Der EuGH betont weiters, dass, soweit der Steuerpflichtige seinen Erklärungsverpflichtungen nachgekommen ist, die Nichtabführung der erklärten Mehrwertsteuer allein keinen Mehrwertsteuerbetrug darstellen kann, unabhängig davon, ob dies vorsätzlich erfolgt. Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Steuerpflichtiger sich eines Mehrwertsteuerbetrugs schuldig macht, wenn dieser die Mehrwertsteuer resultierend aus einem Verkauf eines zwangsversteigerten Grundstücks zwar erklärt, jedoch nicht abführt. Somit kann dem Erwerber dieses Grundstücks erst recht kein Mehrwertsteuerbetrug vorgeworfen werden.

Zudem führt der EuGH aus, dass HA.EN. Gläubigerin der Verkäuferin war und ein Grundpfandrecht an dem Grundstück verfügte, welches Gegenstand einer Zwangsversteigerung wurde. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Übernahme des Grundstücks durch den Gläubiger im Wesentlichen nicht mit der Erlangung eines Steuervorteils (und damit einer missbräuchlichen Praxis) in Verbindung gebracht werden kann, sondern mit dem Willen, seine Forderung von einem sich im Insolvenzverfahren befindlichen Schuldner beizutreiben.

Im Ergebnis kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass HA.EN. rechtsmissbräuchlich gehandelt hat und folglich das Recht auf Vorsteuerabzug nicht verwehrt werden kann.

Praxisfolgen

Dieses Urteil ist zu begrüßen, da es andernfalls zu einer überbordenden Ausfallshaftung des Leistungsempfängers käme, wenn dieser von zahlungsunfähigen Lieferanten erwirbt und von dessen Zahlungsunfähigkeit wusste oder hätte wissen müssen. Ankäufe im Zuge eines Zwangsversteigerungsverfahrens würden ansonsten zB stets unter dem Grundverdacht einer missbräuchlichen Gestaltung stehen.

Aus dem vorliegenden Urteil geht vielmehr hervor, dass es zu keiner rechtsmissbräuchlichen Handlung kommt, wenn ein Steuerpflichtiger einen Vorsteuerabzug geltend macht, obwohl der Lieferant aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten die Mehrwertsteuer nicht an den Staat abgeführt hat. Dies gilt auch, wenn der Erwerber wusste oder hätte wissen müssen, dass der Verkäufer die Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abführen kann. Allein aus den finanziellen Schwierigkeiten, in denen sich ein Schuldner befindet, dessen Gegenstand (hier im Wege der Zwangsvollstreckung) veräußert wird, kann nämlich keine rechtswidrige Absicht abgeleitet werden, die Mehrwertsteuer nicht zu entrichten. Umso weniger kann auch dem Erwerber eine Beteiligung an Mehrwertsteuerbetrug vorgeworfen werden.

In Österreich ist außerdem zu beachten, dass es bei der Lieferung sicherungsübereigneter Gegenstände und Grundstücken im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens ohnehin zum Übergang der Steuerschuld kommt. Dadurch kann es faktisch zu keinem Steuerausfall kommen.